BAG-Urteil zu Maßnahmen des Gesundheitsschutzes bei H&M


Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat mit seiner Entscheidung vom 28. März 2017 (1 ABR 25/15) eine Einschränkung der Mitbestimmung, die es durch eine frühere Entscheidung erst eingeführt hatte, wieder zurückgenommen. Dies ist ein wichtiger Erfolg, den der H&M Betriebsrat und seine Verfahrensbevollmächtigten errungen haben.

In dem Verfahren hatte sich der Betriebsrat H&M Berlin-Gesundbrunnencenter gegen eine Anfechtung eines Einigungsstellenspruchs zu „Akuten Maßnahmen des Gesundheitsschutzes“ gewehrt. Auch wenn das höchste Arbeitsgericht den Spruch im Ergebnis nicht für wirksam gehalten hat, ist die Entscheidung eine fundamentale Errungenschaft für den von uns vertretenen Betriebsrat und alle Betriebsräte, die im Gesundheitsschutz aktiv sind. Die Mitbestimmung bei § 3 Abs. 1 ArbSchG ist nicht eingeschränkt!

Das Vorliegen einer Gefahr ist nicht (mehr) Voraussetzung für die Mitbestimmung von Maßnahmen des Gesundheitsschutzes. Für die Mitbestimmung des Betriebsrates nach § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG genügt das Vorliegen einer Gefährdung.

In einer früheren Entscheidung zum selben Thema vom 11.12.2012 (Az. 1 ABR 81/11) hatte das BAG für die Mitbestimmung des Betriebsrats bei weit gefassten Vorschriften wie § 3 Abs. 1 ArbSchG, die den Arbeitgeber allgemein verpflichten, Gesundheitsschutzmaßnahmen zu ergreifen, noch das Vorliegen einer unmittelbaren, objektiven Gesundheitsgefahr gefordert. Es hatte damit die Mitbestimmung eklatant eingeschränkt und zu erheblichen Verunsicherungen und Entmutigungen der Betriebsräte bei der Ausübung der Mitbestimmung gesorgt. Vielen Belastungen im Arbeitsleben, die mittel- oder langfristig zu Erkrankungen der Beschäftigten führen, liegt aber gerade keine Gefahrensituation zugrunde, sondern „nur“ eine Gefährdungslage.

Der Betriebsrat H&M Berlin-Gesundbrunnencenter kann nun mit dieser neuen Entscheidung im Rücken die Ableitung von Maßnahmen aus der zwischenzeitlich erfolgten Gefährdungsbeurteilung mit dem Arbeitgeber – notfalls in der Einigungsstelle – regeln, und zwar ohne Einschränkung auf Gefahrensituationen.

Dies erleichtert seine Arbeit enorm, weil die Entscheidung seine Mitbestimmungsrechte stärkt. Sie ist also ein Etappensieg auf der langen Tour zur Geltendmachung der Gesundheitsschutzrechte der H&M-Beschäftigten und für das Ziel, gute Arbeitsbedingungen im Einzelhandel durchzusetzen.

Der Betriebsrat der Filiale Gesundbrunnencenter von H&M hatte sich mit dem Arbeitgeber auf die Einsetzung einer Einigungsstelle für die umfassende Erledigung aller Themen des Gesundheitsschutzes geeinigt. Noch bevor die Einigungsstelle eine Betriebsvereinbarung zur Gefährdungsbeurteilung verhandelte, legte sie durch Spruch „Akute Maßnahmen des Gesundheitsschutzes“ fest, die sie als besonders dringlich ansah.

Unter anderem bestimmte die Betriebsvereinbarung, dass Steharbeit auf maximal vier Stunden pro Schicht zu beschränken und so zu organisieren ist, dass sie sich mit bewegender Arbeit abwechselt. Es waren zudem Stehhilfen, Transportwagen für Figuren sowie höhenverstellbare Kleiderstangen zum Transport und Auf- und Abhängen von Ware zur Verfügung zu stellen. Die kompletten Regelungen hat das BAG in seiner Entscheidung gleich zu Beginn aufgeführt.

Der Arbeitgeber verlangte vor Gericht die Feststellung der Unwirksamkeit dieses Spruchs: Die Regelungen seien nicht vom Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats beim Gesundheitsschutz gedeckt. § 3 Abs. 1 ArbSchG setze für erforderliche Gesundheitsschutzmaßnahmen eine Gesundheitsgefahr voraus, die nicht bestehe. Dies stützte er auf die frühere Entscheidung des BAG aus dem Jahr 2012.

Der von unseren Rechtsanwälten Thomas Berger und Martin Fieseler durch die Instanzen vertretene Betriebsrat legte dagegen umfassend dar, warum eine Gesundheitsgefahr überhaupt nicht erforderlich sei, jedoch bei den Sachverhalten, die den einzelnen Regelungen zugrunde liegen, bestehe.

Das BAG ist in dem zentralen Punkt den von uns vorgebrachten Argumenten gefolgt. Es hat entschieden, dass die Mitbestimmung des Betriebsrates auch bei weit gefassten Vorschriften des Gesundheitsschutzes keine unmittelbare objektive Gesundheitsgefahr voraussetzt. Diese noch im Jahr 2012 für erforderlich gehaltene Voraussetzung hat das BAG nun ausdrücklich aufgegeben:

 „§ 3 Abs. 1 Satz 1 ArbSchG setzt jedoch keine konkrete Gesundheitsgefahr, wohl aber das
Vorliegen konkreter Gefährdungen voraus. Soweit der Senatsentscheidung vom 11. Dezember 2012
[…] Gegenteiliges zu entnehmen sein sollte […], wird hieran nicht festgehalten.“

(Randnummer 22 der Entscheidung).

Das BAG hat festgestellt, dass es reicht, wenn eine Gesundheitsgefährdung entweder

a) feststeht oder
b) im Rahmen einer Gefährdungsbeurteilung festgestellt wird.

Eine Gesundheitsgefahr liegt immer vor, wenn es hinreichend wahrscheinlich ist, dass die Gesundheit, körperliche Unversehrtheit oder das Leben der Arbeitnehmer einen Schaden nimmt. Umso größer der zu erwartende Schaden, desto geringer muss die Wahrscheinlichkeit hierfür sein und umgekehrt. Eine Gefährdung liegt dagegen bereits vor, wenn der Eintritt eines Schadens für die Gesundheit, die körperliche Unversehrtheit oder das Leben als möglich erscheint. Diese Voraussetzung ist also viel weniger hoch.

Trotz der elementaren Feststellung, dass für die Mitbestimmung eine Gefährdung genügt, erklärte das BAG den Spruch im Ergebnis insgesamt für unwirksam. Es sah keine Gefährdung als feststehend oder festgestellt an. Obwohl die Einigungsstelle sich intensiv mit den Gefährdungen im Betrieb – auch durch eine Betriebsbegehung – auseinandergesetzt hatte, war das BAG der Auffassung, dass darin keine Gefährdungsbeurteilung zu sehen ist (Randnummer 23 der Entscheidung). Dies sei Aufgabe des Arbeitgebers und derjenigen, auf die der Arbeitgeber den Arbeitsschutz delegiert – wozu die Einigungsstelle nicht gehöre. Außerdem sei das Mitbestimmungsrecht präventiv ausgerichtet. Eilmaßnahmen seien Sache der Behörden.

Der Spruch sei ferner auch deshalb unwirksam, weil der Regelungsgegenstand des Spruchs „Akute Maßnahmen des Gesundheitsschutzes“ nicht genau genug gefasst sei. Es sei bei diesem „bunten Strauß“ an Regelungen (ein bisschen hiervon, ein bisschen davon) nicht möglich, zu bestimmen, ob die Einigungsstelle ihren Regelungsauftrag vollständig erledigt habe.

Dagegen stellte das BAG ausdrücklich fest, dass die Einigungsstelle im Rahmen des § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG nicht nur Regelungs-, sondern auch Rechtsfragen zu entscheiden hat (Randnummer 12 der Entscheidung).

Dem BAG ist darin absolut zuzustimmen, dass die Mitbestimmung des Betriebsrates bei Maßnahmen, die der Arbeitgeber aufgrund weit gefasster Vorschriften des Gesundheitsschutzes wie § 3 Abs. 1 ArbSchGergreifen muss, lediglich Gefährdungen voraussetzt, nicht aber eine Gefahr. Diese Änderung der Rechtsprechung des BAG zu erreichen, war zentrales Ziel des Verfahrens des Betriebsrats. Dieses hat er vollumfänglich erreicht.

Die Mitbestimmung beim Gesundheitsschutz besteht § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG zufolge, wenn eine Rahmenvorschrift dem Arbeitgeber eine Handlungspflicht auferlegt, aber noch Handlungsspielraum belässt. Um genau so eine Rahmenvorschrift handelt es sich bei § 3 Abs. 1 ArbSchG. Diese Vorschrift lautet:

„Der Arbeitgeber hat die erforderlichen Maßnahmen des Arbeitsschutzes unter Berücksichtigung
der Umstände zu treffen, die Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten bei der Arbeit
beeinflussen.“

Das von der Arbeitgeberin angeführte Argument, die Mitbestimmung des Betriebsrates bei dieser Vorschrift müsse durch das Erfordernis des Vorliegens einer Gesundheitsgefahr begrenzt werden, weil die Mitbestimmung andernfalls uferlos werde und kein Raum mehr für freiwillige Betriebsvereinbarungen zum Gesundheitsschutz bliebe, trifft nicht zu.

Dies zeigt schon der Blick in den Wortlaut von § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG und § 3 Abs. 1 ArbSchG, der jeweils keine entsprechende Einschränkung enthält. § 4 Nr. 1 (Allgemeine Grundsätze) und § 5 ArbSchG (Beurteilung der Arbeitsbedingungen) sprechen ebenfalls von Gefährdungen.

Eine Begrenzung der Mitbestimmung erfolgt außerdem bereits dadurch, dass der Arbeitgeber gemäß § 3 Abs. 1 ArbSchG nur die „erforderlichen“ Maßnahmen des Gesundheitsschutzes ergreifen muss. Welche Maßnahmen „erforderlich“ sind, bestimmt wiederum § 5 Abs. 1 ArbSchG: Der Arbeitgeber hat nach dieser Vorschrift durch eine Beurteilung der für die Beschäftigten mit ihrer Arbeit verbundenen „Gefährdung“ zu ermitteln, welche Maßnahmen des Arbeitsschutzes „erforderlich“ sind.

Wo kam dann aber die Gesundheitsgefahr her? Aus der Vorgängervorschrift von § 3 Abs. 1 ArbSchG: § 120a GewO setzte eine Gefahr voraus. Die Vorschrift war auf das Eingreifen von Behörden bei Gefahren zugeschnitten. Seit Inkrafttreten der europäischen Arbeitsschutzrichtlinie 1989 und des § 3 Abs. 1 ArbSchG 1996 fiel dieses Erfordernis jedoch weg. Seither gilt ein System, nach dem die Gefährdungen präventiv unter Beteiligung des Betriebsrats vermieden werden sollen. § 2 Abs. 1 ArbSchG spricht sogar davon, dass Maßnahmen des Arbeitsschutzes auch Maßnahmen der „menschengerechten Gestaltung der Arbeit“ einschließen, und damit also gerade nicht auf Gefahren begrenzt sind.

Die europäische Arbeitsschutz-Richtlinie, die durch das Arbeitsschutzgesetz umgesetzt wird, spricht in der englischen Fassungen von „risks“, die als „Risiko“ zu übersetzen sind – und nicht als Gefahren. Das europäische Arbeitsschutzsystem lebt gerade von der Mitbestimmung der Arbeitnehmer, die das größte Interesse an ihrem Gesundheitsschutz haben und deren Mitwirkung diesen am effektivsten umsetzen kann.

Diese Änderung muss dem BAG im Jahr 2012 wohl entfallen sein. Es schwenkt mit seiner neuen Entscheidung zurück auf seine lange Rechtsprechungslinie, die vor der Entscheidung von 2012 bestand und hinsichtlich des Gesundheitsschutzes stets mitbestimmungsfreundlich war.

Die Aussage, dass die Einigungsstelle hinsichtlich Rechts- und Regelungsfragen entscheidungsbefugt ist, ist sehr zu begrüßen. So kann sie umfassend, schnell und betriebsnah über die streitigen Fragen entscheiden.

Offen lässt das BAG allerdings, wann eine Gefährdung „feststeht“. Naheliegend sind aus unserer Sicht unter anderem folgende Konstellationen:

  • Arbeitgeber und Betriebsrat sind sich über das Ob des Handlungsbedarfs angesichts einer
    bestimmten Situation einig, streiten allerdings über das Wie.
  • Die Arbeitsschutzbehörde hat angeordnet, einer Gefährdung abzuhelfen, lässt aber das Wie offen.
  • Arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse ergeben eine Gefährdung. So bedarf es z.B. keiner
    Gefährdungsbeurteilung, um festzustellen, dass dauerhafte Nachtarbeit die Gesundheit gefährdet.
    Dies hat das BAG in seiner Entscheidung vom 09.12.2015 (Az. 10 AZR 423/14) zum Zuschlag bei
    Nachtarbeit bereits festgestellt.
  • In einer technischen Regel, die die Ausschüsse beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales
    (z.B. vom Arbeitsstättenausschuss – ASTA) ermitteln, wird eine Situation, die im Betrieb feststeht,
    als Gefährdung bezeichnet, ohne dass eine weitere Gefährdungsbeurteilung nötig ist.
  • Erkenntnisse über Gefährdungen eines Zustands oder einer Situation ergeben sich aus einer
    Publikation der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA), z.B. zu
    Mindestgrößen von Treppenstufen und -geländern, um Gefährdungen auszuschließen.
  • Eine feststehende Gefährdung kann sich auch aus Erkenntnissen der Europäischen Agentur für
    Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz (OSHA), die diese vor allem als sogenannte
    „Facts Sheets“ herausgibt, ergeben, beispielsweise bezüglich Risikofaktoren für die Entstehung
    von Muskel- und Skelett-Erkrankungen.

Zu bedauern ist, dass das BAG nicht anerkannt hat, dass die Einigungsstelle eine Gefährdungsbeurteilung vornehmen kann und Gefährdungen festgestellt hat. Das Gericht begründet seine Ansicht damit, dass nach § 13 ArbSchG der Arbeitgeber für den Gesundheitsschutz zuständig ist. Nur er oder die weiteren nach § 13 ArbSchG zuständigen oder beauftragten Personen könnten daher die Gefährdungsbeurteilung nach § 5 ArbSchG durchführen.

Der Schluss ist aber nicht zwingend und lässt eine schwere mitbestimmungsrechtliche Schutzlücke für die Zeit, bis sich Arbeitgeber und Betriebsrat darauf geeinigt haben (oder hilfsweise die Einigungsstelle beschlossen hat), wie eine Gefährdungsbeurteilung durchzuführen ist und diese durchgeführt ist. Dies kann durchaus mehrere Jahre dauern. Während dieser Zeit ist das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates bei den Abhilfemaßnahmen de facto blockiert ¬ sofern der Betriebsrat nicht darlegen kann, dass die Gefährdungen auch ohne Gefährdungsbeurteilung feststehen. Dies führt zu einer fatalen Schutzlücke gerade im so wichtigen und sensiblen Bereich des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer.

Das BAG hätte bei einer Reihe von Regelungen im Spruch die Gefährdungen als feststehend oder festgestellt ansehen müssen oder diese Fragen zur Klärung an das LAG zurückverweisen müssen.

Das Befinden darüber, ob eine Gefährdung feststeht, hätte das BAG also der Einigungsstelle überlassen und dieses Ergebnis dann selbst oder vom LAG als Tatsacheninstanz überprüfen lassen müssen. Doch das BAG hat nicht weiter geforscht/erforschen lassen, ob eine Gefährdung „feststeht“, ob es etwa arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse gibt, die bei einer bestimmten Situation (z.B. mehr als vier Stunden lang ununterbrochene Steharbeit) eine Gefährdung für die Beschäftigten ergibt. Solche Erkenntnisse hatte der Betriebsrat etwa bzgl. einer Gefährdung des Muskel- und Skelettapparats durch Steharbeit im Handel in Form eines Merkblatts des zuständigen Unfallversicherungsträgers vorgebracht. Hieraus hatte das LAG noch eine Gesundheitsgefahr abgeleitet.

Für die Berechtigung der Einigungsstelle, Maßnahmen festzulegen, spricht außerdem, dass das Gesetz nicht definiert, wie eine Gefährdungsbeurteilung ausgestaltet sein muss. Mit dieser Frage beschäftigt sich auch das BAG in seiner Entscheidung nicht. Daher muss gelten: Der bloße Akt des Betrachtens und Erkennens einer Gefährdung stellt bereits eine erste Gefährdungsbeurteilung dar, die zu sofortigen mitbestimmten Abhilfemaßnahmen verpflichtet. Damit ist nicht gesagt, dass diese einfache Form insgesamt genügt. Vielmehr kann darüber hinaus die Anwendung arbeitswissenschaftlicher, medizinischer und technischer Erkenntnisse notwendig sein. Doch bis dahin darf es kein Abwarten für die Mitbestimmung geben, wenn bereits eine erste Gefährdungsbeurteilung Handlungsbedarf ergeben hat.

So gesehen hat im vorliegenden Fall auch der Arbeitgeber eine „erste“ Gefährdungsbeurteilung vorgenommen, indem der Filialleiter in seiner Funktion als Beisitzer an der Betriebsbegehung der Einigungsstelle teilnahm.

Von diesen Möglichkeiten, das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates auch bis zum Vorliegen von Ergebnissen einer mitbestimmten Gefährdungsbeurteilung zu wahren, macht das BAG leider keinen Gebrauch. Vielmehr verweist es darauf, dass sich das Mitbestimmungsrecht nicht auf „Regelungen zu „Eilmaßnahmen“ im Sinn einer unverzüglichen Behebung von Gefährdungen oder Gefahren erstreckt, sondern auf präventiven Gesundheitsschutz“. Die Anordnung „unaufschiebbarer“ Maßnahmen sei Sache der zuständigen Behörden.

Diese Argumente des BAG überzeugen nicht: § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG enthält keine Einschränkung, dass die Mitbestimmung erst mit einem gewissen zeitlichem Abstand wirken darf und akute Maßnahmen ausgenommen sind. Vielmehr spricht das Mitbestimmungsrecht ganz konkret  von Regelungen über „die Verhütung“ von Berufskrankheiten und Arbeitsunfällen. Diese können und müssen auch kurzfristig erfolgen. Warum hiervon gerade Eilmaßnahmen ausgeschlossen sein sollten, erschließt sich nicht.

Auch aus dem Argument, dass „unaufschiebbare“ Maßnahmen Sache der zuständigen Behörden seien, folgt nichts anderes. § 22 Abs. 3 ArbSchG besagt, dass die zuständige Behörde anordnen kann, welche Maßnahmen der Arbeitgeber ergreifen muss. Doch findet diese Vorschrift gleichberechtigt neben anderen Vorschriften Anwendung. Sie hat keinen Ausschließlichkeitsanspruch. Der Betriebsrat muss nach § 89 BetrVG die Arbeitsschutzbehörden durch Anregung, Beratung und Auskunft unterstützen. Die Arbeitsschutzbehörden müssen wiederum den Betriebsrat bei allen Besichtigungen und Fragen hinzuziehen. Es gilt kein „Entweder-Oder“ von betrieblicher Mitbestimmung und arbeitsschutzbehördlichen Anordnungen, sondern ein Nebeneinander und eine Pflicht zur Zusammenarbeit. Vor allem angesichts der häufig bemängelten personellen und sachlichen Unterausstattung der Arbeitsschutzbehörden kommt der Mitbestimmung des Betriebsrates bei eiligen Maßnahmen des Gesundheitsschutzes eine hohe Bedeutung für die Gewährleistung des Schutzes der Grundrechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit der Arbeitnehmer zu. Bei unaufschiebbaren Maßnahmen muss der zusätzliche Schutz durch die Mitbestimmung erst recht gelten.

Infolge der Entscheidung des BAG aus dem Jahr 2012 weigerten sich Arbeitgeber regelmäßig, den Betriebsrat die erforderlichen Maßnahmen des Gesundheitsschutzes mitbestimmen zu lassen, selbst wenn eine Gefährdungsbeurteilung vorlag. Denn die Betriebsräte konnten oft keine unmittelbare, objektive Gesundheitsgefahr für die Beschäftigten begründen. In der Folge war es auch in Einigungsstellen häufig nicht möglich, Abhilfemaßnahmen hinsichtlich Gefährdungen durchzusetzen, wenn der Arbeitgeber auf die Entscheidung von 2012 verwies. Dies wird sich nun ändern. Der Verweis auf eine höchstrichterliche Rechtsprechung, die für die Mitbestimmung eine Gefahr voraussetzt, ist Arbeitgebern mit der neuen Entscheidung vom 28.03.2017 verwehrt.

Zumindest wenn eine Gefährdungsbeurteilung durchgeführt ist, kann der Betriebsrat hinsichtlich der festgestellten Gefährdungen die Abhilfemaßnahmen, notfalls in der Einigungsstelle, mitbestimmen. Will er dies ohne oder vor Vorliegen der Ergebnisse einer mitbestimmten Gefährdungsbeurteilung tun, muss er darlegen, dass eine Gefährdung feststeht. Er kann sich aber auch auf eine einseitige Gefährdungsbeurteilung des Arbeitgebers beziehen oder Teilbereiche dieser genehmigen. Die Darlegung einer Gefahr bleibt ebenfalls weiter eine Möglichkeit, denn das BAG formuliert, dass die Mitbestimmung „nicht auf das Vorliegen einer konkreten Gefahrenlage beschränkt“ ist.

Dadurch, dass nun höchstrichterlich anerkannt ist, dass die Gefahr keine Voraussetzung für die Mitbestimmung darstellt, schließt sich der von Arbeitsschutzgesetz und Betriebsverfassungsgesetz vorgegebene Kreis: Der Arbeitgeber hat die erforderlichen Maßnahmen des Gesundheitsschutzes zu ergreifen. Welche dies sind, wird in erster Linie durch die Gefährdungsbeurteilung bestimmt. Wie die Gefährdungsbeurteilung durchgeführt wird, bestimmt der Betriebsrat mit. Und wie die Maßnahmen aussehen, die aufgrund der festgestellten Gefährdungen ergriffen werden müssen, ist ebenfalls mitbestimmungspflichtig.

Auch der Betriebsrat von H&M geht aus dem Verfahren gestärkt hervor. Er hat die Zwischenzeit genutzt, um eine Betriebsvereinbarung zur Gefährdungsbeurteilung zu verhandeln, deren Teilergebnisse nun vorliegen. Auf deren Basis kann er nun mitbestimmen, was ihm der Arbeitgeber und das BAG vor der Entscheidung versagten: Die Gesundheitsschutzmaßnahmen zur Abhilfe von Gesundheitsgefährdungen. Unter diesem Aspekt können auch die Regelungsbereiche aus dem für unwirksam erklärten Teilspruch erneut in einer Betriebsvereinbarung geregelt werden, die der Betriebsrat erzwingen kann. Die unwirksamen Regelungsgegenstände fallen also in die Einigungsstelle zurück.

Betriebsräte, die das Thema des Gesundheitsschutzes angehen, sollten als eine der ersten Handlungen eine Betriebsvereinbarung zur Durchführung der Gefährdungsbeurteilung schließen. Dies garantiert ihnen, sobald Ergebnisse zu den Gefährdungen vorliegen, über die Abhilfemaßnahmen mitzubestimmen.

Für die Zeit, bis Ergebnisse vorliegen, verweist das BAG die Betriebsräte zur Durchsetzung eiliger Maßnahmen auf eine Mitteilung an die Aufsichtsbehörden. Stehen Gefährdungen hingegen fest, etwa aufgrund arbeitswissenschaftlicher Erkenntnisse oder aufgrund einer einseitig durch den Arbeitgeber bestimmten Gefährdungsbeurteilung, kann ein Betriebsrat die Abhilfemaßnahmen durch die Einigungsstelle erzwingbar.

Liegen aufgrund einer mitbestimmten Gefährdungsbeurteilung bereits Ergebnisse vor, aber existieren bisher keine mitbestimmten Maßnahmen, sollten Betriebsräte diese nun zusammen mit ihrem Arbeitgeber festlegen.

Gelingt die einvernehmliche Festlegung der Maßnahmen nicht, sollte der Betriebsrat die Einigungsstelle anrufen. Die Maßnahmen sind so konkret und umfassend wie möglich zu fassen, damit sie wirksam sind.

Auf diese Weise können Betriebsräte effektiv beim Gesundheitsschutz mitbestimmen. Die Arbeitnehmer werden es ihnen danken. Denn was gibt es Wichtigeres, als die Gesundheit?