24.11.2016

Update Tarifeinheitsgesetz

Was ist der Inhalt des Tarifvertragsgesetzes?  

Am 10. Juli 2015 trat nach starken Kontroversen das Tarifeinheitsgesetz in Kraft. Es führte im Kern die Regelung ein, dass bei der Geltung mehrerer Tarifverträge mit unterschiedlichem Inhalt in einem Betrieb nur ein Tarifvertrag anwendbar ist, und zwar der, der von der Gewerkschaft mit den meisten Mitgliedern im Betrieb abgeschlossen wurde (sog. Mehrheitsprinzip). Für die Feststellung der Mitgliedermehrheit wird auf den Zeitpunkt des Inkrafttretens des letzten inhaltlich kollidierenden Tarifvertrags abgestellt. Diese Regelung findet sich im neuen § 4a des Tarifvertragsgesetzes. Welcher Tarifvertrag anwendbar ist, entscheidet im Streitfall nun das Arbeitsgericht. Dieses entscheidet auch über die Zahl der Mitglieder einer Gewerkschaft, die im Betrieb im Arbeitsverhältnis stehen.

§ 4a TVG räumt der Mehrheitsgewerkschaft zudem ein Recht gegen die Minderheitsgewerkschaft ein, dass diese den von der Mehrheitsgewerkschaft ausgehandelten Tarifvertrag ebenfalls abschließen muss, soweit die Tarifverträge denselben Geltungsbereich und Inhalt haben. Nimmt ein Arbeitgeber oder eine Arbeitgebervereinigung Verhandlungen über einen Tarifvertrag auf, muss die Arbeitgeberseite dies rechtzeitig bekannt geben. Dies hat das Recht einer anderen Gewerkschaft zur Folge, ihre Vorstellungen und Forderungen „mündlich“ dem Arbeitgeber oder der Arbeitgebervereinigung vorzutragen.

Was spricht für und wider das Tarifeinheitsgesetz?

§ 4a TVG nennt in Absatz 1 selbst vier seiner Zwecke: Die Sicherung der Schutzfunktion, Verteilungsfunktion, Befriedungsfunktion und Ordnungsfunktion von Rechtsnormen von Tarifverträgen. Das klingt relativ abstrakt. Es bedeutet vereinfacht gesagt, dass Tarifverträge sicherstellen können sollen, dass ihre Vorschriften Beschäftigte schützen, Verteilungskonflikte lösen, Streitigkeiten ausräumen und Regeln für das Arbeitsverhältnis schaffen. Diese Zwecke nennt auch die Begründung des Gesetzesentwurfs. Dieser sieht als übergreifendes Ziel des Tarifeinheitsgesetzes vor, die Tarifautonomie zu sichern, die bei Kollision mehrerer Tarifverträge im Betrieb beeinträchtigt wäre. Für das Gesetz wurde ferner ins Feld geführt, dass die Gefahr von zu vielen Streiks bestünde. Das „Lahmlegen“ des Flug- und Eisenbahnverkehrs gehörte zu den maßgeblichen Gründen für die Einführung des Tarifeinheitsgesetzes. Die Eisenbahngewerkschaften GDL und EVG stritten damals auch darüber, welche dieser Gewerkschaften welche Berufsgruppen vertritt.

Hauptargument gegen das Tarifeinheitsgesetz ist, dass es die Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG verletzt. Die Gewerkschaft mit im Betrieb weniger vertretenen Mitgliedern kann ihrem satzungsmäßigem Auftrag, Tarifverträge zu verhandeln und zur Geltung zu bringen, nicht mehr nachkommen, wenn diese später nicht gelten. Es würden die Sparten(Verbands-)gewerkschaften gegenüber den Industriegewerkschaften benachteiligt, weil sie regelmäßiger weniger Mitglieder in den Betrieben hätten. Sie würden auch Mitglieder verlieren, die zu den Gewerkschaften wechseln, die aufgrund ihrer Mitgliederzahl mehr ausrichten könnten. Dies gefährde sogar ihre Existenz. Es wird auch befürchtet, dass Streiks kleinerer Gewerkschaften mangels der Möglichkeit, letztlich geltende Tarifverträge durchzusetzen, von vornherein unzulässig wären.

Das Bundesarbeitsgericht hat den von ihm zuvor selbst aufgestellten Grundsatz der Tarifeinheit im Betrieb in seiner Entscheidung 2010 (BAG, Urteil vom 07.07.2010, 4 AZR 549/08, Randnummer 21 und ab Randnummer 53) aus zwei Gründen wieder aufgegeben: Erstens, weil er im Tarifvertragsgesetz keine Stütze fand. Dies hat der Gesetzgeber inzwischen behoben. Zweitens jedoch, weil die Verdrängung eines Tarifvertrags „auch mit dem Grundrecht der Koalitionsfreiheit nach Art. 9 Abs. 3 GG nicht zu vereinbaren“ ist . Das Bundesarbeitsgericht spricht in seiner Entscheidung aus, dass in der Verdrängung eines von einer Gewerkschaft geschlossenen Tarifvertrags nach dem Grundsatz der Tarifeinheit eine Verletzung sowohl der kollektiven Koalitionsfreiheit der tarifschließenden Gewerkschaften als auch der individuellen Koalitionsfreiheit des an diesen gebundenen Gewerkschaftsmitglied liegt. Es betont, dass die Koalitionsfreiheit nicht nur ein Grundsatz ist, nach dem für einen gewerkschaftsangehörigen Beschäftigten im Betrieb ein irgendwie zustande gekommener Tarifvertrag gilt, sondern ein individuelles Recht, aufgrund seiner freien Entscheidung, Mitglied einer bestimmten Koalition zu werden, an dem durch diese Koalition geschlossenen Tarifvertrag teil zu haben. Dieses Recht kann nur zum Schutze von Gütern mit Verfassungsrang beschränkt werden. Anzeichen, dass der Grundsatz der Tarifeinheit im Betrieb für die Wahrung der Funktionsfähigkeit erforderlich wäre, sieht das Bundesarbeitsgericht hingegen nicht. Für eine Beeinträchtigung grundrechtlich geschützter Gemeinwohlbelange durch die parallele Geltung unterschiedlicher Tarifverträge im Betrieb sieht das Bundesarbeitsgericht derzeit ebenfalls keine Anhaltspunkte.

Was sagt das Bundesverfassungsgericht bisher dazu?

Eine Entscheidung über das Tarifeinheitsgesetz hat das Bundesverfassungsgericht in drei Verfassungsbeschwerden für Ende 2016 angekündigt. Drei Verbandsgewerkschaften haben Verfassungsbeschwerde gegen § 4a TVG eingelegt und zusätzlich beantragt, die Vorschrift mittels einstweiliger Anordnung außer Kraft zu setzen. Das Bundesverfassungsgericht hat die Anträge auf vorläufige Anordnung am 06.10.2015 abgewiesen, weil es nicht absehbar sei, dass es vor seiner Entscheidung für die Gewerkschaften oder deren Mitglieder zu so gravierenden, nur schwer revidierbaren Nachteilen kommen würde, dass das Gesetz unbedingt außer Vollzug gesetzt werden müsse. Allerdings hat das Gericht zugleich ausgesprochen, dass die Verfassungsbeschwerden weder von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet wären (BVerfG, Beschl. v. 06.10.2015 – 1 BvR 1571/15, 1 BvR 1582/15, 1 BvR 1588/15; eine Zusammenfassung gibt es in dieser Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts).  Eine Verletzung der in Art. 9 Abs. 3 GG verankerten Koalitionsfreiheit hält es somit für möglich. Es wird sich die nötige Zeit nehmen, um die Verfassungsbeschwerden eingehend zu prüfen.

Zwei weitere gegen § 4a TVG eingelegte Verfassungsbeschwerden wurden nicht zur Entscheidung angenommen. Das Bundesverfassungsgericht beschloss am 16.06.2016, nicht inhaltlich über sie zu entscheiden, weil die beiden Gewerkschaften, die die Verfassungsbeschwerde eingelegt hatten, nicht dargelegt hatten, bereits gegenwärtig betroffen zu sein. Dies ist Voraussetzung für eine Verfassungsbeschwerde.

Das sagen wir dazu:

Wir sehen in der Regelung des Tarifeinheitsgesetzes nicht eine bloße angemessene Ausgestaltung der Koalitionsfreiheit, sondern einen Eingriff, der nicht gerechtfertigt ist. Die Möglichkeit zu streiken, um Tarifverträge abzuschließen ist ein hohes Gut, das nach der Verfassung für jedermann gewährleistet ist. Die Tarifautonomie ist nicht bereits deshalb gefährdet, weil es einige Male im Jahr zu Streiks kommt, die für viele von uns mit Einschränkungen einhergeht. Im Vergleich zu anderen Ländern wird in Deutschland zudem bekanntlich eher wenig gestreikt.

Statt der Auflösung einer Tarifkollision im Betrieb hätte man es dabei belassen müssen, dass im Betrieb mehrere Tarifverträge gelten. Dies ist zwar aufwendig für den Arbeitgeber, aber zumutbar angesichts der hohen Bedeutung der Koalitionsfreiheit.

Man hätte statt des Mehrheitsprinzips das Spezialitätsprinzip anwenden können, das auch bei der Kollision zweier Tarifverträge in einem Arbeitsverhältnis gilt. Diese Regel des Spezialitätsprinzips hatte das Bundesarbeitsgericht auch bis zu seiner Aufgabe des Grundsatzes der Tarifeinheit im Betrieb angewandt. Danach gilt immer der Tarifvertrag, der spezieller ist, also die Regelungen beinhaltet, die am besten passen. Das Mehrheitsprinzip mag zwar innerhalb der Tarifeinheit auf den ersten Blick demokratischer erscheinen, man stelle sich aber das Hin- und Her vor, wenn die Mehrheiten knapp aneinander liegen und ständig wechseln. Welche Regelungen am besten passen, ist eine nicht einfach zu beantwortende Wertungsfrage, über die im Streitfall das Gericht, mit dem damit einhergehenden Zeitablauf, entscheidet. Beide Prinzipien sind daher nicht sonderlich geeignet, eine Tarifpluralität im Betrieb aufzulösen.

Über das Ziel hinaus schießt auch der Anspruch auf Nachzeichnung. So wird eine mitgliederschwache Gewerkschaft auch noch gezwungen, Normen abzuschließen, die sie gar nicht vereinbart hat. Deren Geltung hätte auch direkt gesetzlich angeordnet werden können, sofern man dem Grundsatz der Tarifeinheit folgen will.

Aufgrund der kritischen Haltung zum Tarifeinheitsgesetz hat eine Vielzahl von Anwälten unserer Kanzlei einen Aufruf gegen das Tarifvertragsgesetz unterschrieben.

Rechtsanwalt Martin Fieseler